Deutschland darf im Jahr 2025 neben Slowenien eine der beiden Kulturhauptstädte Europas stellen. Die Städte Chemnitz, Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg sind in der engeren Wahl. Die Entscheidung fällt am 28. Oktober.
Berlin war es 1988, Weimar 1999 und Essen mit dem Ruhrgebiet im Jahr 2010. Im Jahr 2025 darf Deutschland – neben Slowenien – wieder eine Kulturhauptstadt für Europa benennen. Chemnitz, Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg schafften es im Auswahlverfahren auf die Shortlist und können sich Hoffnung auf den prestigeträchtigen Titel machen. Die Auszeichnung als „Kulturhauptstadt Europas“ wird seit 1985 jeweils für ein Jahr von der Europäischen Union mit dem Ziel verliehen, Europas Vielfalt und Zusammengehörigkeit erlebbar zu machen. Der EU-Titel feiert das gemeinsame europäische Kulturerbe und zeichnet Städte und Regionen aus, die durch partizipative und nachhaltige Konzepte ihre kulturellen Besonderheiten erfahrbar machen. Anfangs waren es nur Metropolen wie Paris oder Berlin. Dann änderte sie das Konzept. Vor allem kleinere Städte aus der zweiten Reihe sind jetzt gefragt. Oft sind es ehemalige Industriestandorte, die versuchen mit Kultur und Tourismus ein neues Image aufzubauen. 2010 waren es Essen und das Ruhrgebiet, 2004 die ehemalige Textilstadt Lille in Nordfrankreich und 2008 die norwegische Ölstadt Stavanger zusammen mit Liverpool. Gerade die ehemalige nordenglische Industriemetropole hat sich seit dem Kulturhauptstadtjahr so grundlegend verändert wie kaum eine andere Stadt in Europa. Aus dem Armenhaus Englands ist ein angesagtes Ziel für Städtereisen geworden. Das Gesicht der Stadt hat sich komplett verändert. Aus der alten Waterfront, wo einst die Werften berühmte Schiffe bauten und die großen Dampfer aus Amerika anlegten, ist ein Vergnügungs- und Kulturviertel geworden. Die Londoner Tate Modern hat hier ihre größte Filiale außerhalb der Hauptstadt eröffnet. Die einst verfallende Innenstadt wurde renoviert und ist heute eine beliebte Wohngegend. Auch für Essen und das Ruhrgebiet war das Kulturhauptstadtjahr vor 20 Jahren ein nachhaltiger Impulsgeber. „Das Ruhrgebiet wurde durch die Kulturhauptstadt touristisch wachgeküsst. Dieser Trend ist ungebrochen, denn wir sind immer noch eine unterschätzte Region,“ so Richard Röhrhoff, Geschäftsführer der EMG – Essen Marketing GmbH. Auch als Imagefaktor wirkt das Ausnahmejahr 2010 nach und hat Perspektiven für wirtschaftliche Entwicklungen geöffnet. „Es ist gelungen, das gesamte Ruhrgebiet national und international als kreative und innovative Region zu präsentieren und damit auch das Image Essens als attraktiver Wirtschaftsstandort mit hoher Lebensqualität zu steigern. Die Strahlkraft der Kulturhauptstadt ist auch nach zwanzig Jahren ungebrochen und trägt maßgeblich dazu bei, junge Talente, hochqualifizierte Fachkräfte, Unternehmen und Start-ups nach Essen zu locken“, sagt Andre Boschem, Geschäftsführer der EWG – Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH.
Tourismus- und Wirtschaftsförderung ist allerdings nicht das Entscheidende einer Europäischen Kulturhauptstadt. Wichtig sei, dass das Programm mit den Einheimischen von unten nach oben entwickelt wird. Dazu muss es eine „europäische Dimension“ geben, mit einer Bedeutung über das eigene Land und das Kulturhauptstadtjahr hinaus. Mit dem Ziel: Die kulturelle Vielfalt Europas darzustellen und den Bürgern des Kontinents ein besseres Verständnis füreinander zu ermöglichen.
Welche Stadt es letztlich wird, entscheidet eine zehnköpfige Experten-Jury der EU. Dieser gehörte von 2014 bis 2018 Dr. Ulrich Fuchs an. Davor war er stellvertretender Intendant der Europäischen Kulturhauptstädte Linz und Marseille, wo er seitdem auch lebt. In einem Podcast erklärt er: „Ich glaube, man muss Mittel und Wege finden, wie nach dem Kulturhauptstadtjahr selbst die Dynamik erhalten werden kann und man das nicht zu den Akten legt und sagt, so das war’s jetzt. Das ist das wesentliche Kriterium. Das Schwierige, aber auch das Anspruchsvolle dabei ist es, die Projekte der Europäischen Kulturhauptstadt in den Köpfen der Politiker, der Stadtgesellschaft und auch der Zivilgesellschaft als ein Teil der Stadtentwicklung zu verankern und nicht als ein einmaliges Festival.“
Die Planer in den EU-Kulturhauptstädte kämpften immer mit einem Konflikt: Einerseits müssen sie mit großen Events Besucher von weit her anlocken. Anderseits sollen sie mit den Einheimischen zusammen kleine authentische Projekte in den Stadtvierteln entwickeln. Letzteres ist zeitaufwendig und mühsam. „Politiker schmücken sich lieber mit den großen Spektakeln,“ so der Kulturhauptstadt-Experte.
Und mit welchen Konzepten wollen die fünf deutschen Wettbewerber für die „Kulturhauptstadt Europas“ 2025 punkten?
Das sächsische Chemnitz stellt die Widersprüche seiner Geschichte in den Mittelpunkt der kulturdominierten Bewerbung: Umbrüche, Identitätssuche, den Wandel zur Stadt der Industriekultur. „Mit unserer Bewerbung“, so Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, „möchten wir auch Antworten finden auf Fragen, die viele europäischen Städte und Regionen umtreiben: Das Zusammenwirken von Stadt und Land. Die Ökologische Mobilität. Wie schaffen wir es, dem Auseinanderfallen in Stadtteile, in Gruppen entgegenzuwirken?“
Die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover will eine Agora – ein Kunst- und Debattierforum – in der City schaffen. „Die Agora ist die moderne Plattform, in der sich die Menschen treffen, um über die europäischen Themen zu diskutieren, um zu feiern, um zu experimentieren, um Dinge zu verhandeln, um Menschen mal Gehör zu verschaffen, die vorher noch nicht gehört wurden“, so Melanie Botzki vom Bewerbungsteam. „Und das wollen wir alles künstlerisch ausdrücken und eine Plattform bieten, wo man über Europa neu nachdenkt, jenseits der Politik.“ Weitere Schwerpunkte der Bewerbung sind grüne Stadt, Musik als universelle Sprache sowie Religion auf der Suche nach gemeinsamen Werten.
Hildesheim, die 100.000 Einwohner-Stadt südlich von Hannover, bewirbt sich mit der umliegenden Region und will damit zeigen, dass es so etwas wie eine progressive Provinz gibt, eine „europäische Kultur-Modellregion“. Dazu zählen nicht nur die mittelalterlichen Unesco-Welterbe-Kirchen St. Michaelis und Mariendom, sondern auch die von den Hochschulen beeinflusste freie Kulturszene.
Magdeburg will sich im Rennen um den Titel mit dem Slogan „Force of Attraction – Anziehungskraft“ durchsetzen mit dem Ziel, Wissenschaft, Technik, Kunst und Kultur zusammenzubringen.
Nürnberg will als Kulturhauptstadt zu einer Zeitreise einladen und dabei „auch die Zukunft erarbeiten“. Daher das Wortspiel des Slogans „Past forward“ als Motto der Bewerbung. „Wir kehren der Geschichte nicht den Rücken, sondern stellen uns ihr. Wir nehmen die Geschichte der Stadt, der Region und Europas an, hinterfragen und diskutieren sie im Hier und Jetzt und leiten daraus die Zukunft ab,“ so ein Sprecher.
Mit Livestreams, vorproduzierten Filmbeiträgen und Videodiskussionsrunden werden die Bewerberstädte bei virtuellen „city visits“ ihre Stadt und Region, deren Kulturlandschaft und Akteure sowie ihre Vision der lokalen Umsetzung eines möglichen Kulturhauptstadtjahres einem zwölfköpfigen Entscheidungsgremium vorstellen. In der finalen Auswahlsitzung präsentieren die Bewerbungsteams am 26. und 27. Oktober ihre Bewerbung via Livestream der zehnköpfigen Jury und stellen sich anschließend deren Fragen in Videodiskussionsrunden. Am 28. Oktober 2020 wird die europäische Jury ihre Empfehlung offiziell für die Gewinnerstadt als „Kulturhauptstadt Europas 2025“ verkünden.
Die Veranstaltung wird aufgrund von Hygiene-Bestimmungen im usammenhang mit der CoronaPandemie ausschließlich als Livestream auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung der Länder in deutscher und englischer Sprache übertragen.