Der 1865 auf Sylt geborene Gustav Jenner gilt als einziger Schüler von Johannes Brahms und Autor zahlreicher Lieder nach den Dichtern Theodor Storm und Klaus Groth. Im Frühjahr hätte ein Festival auf seiner Geburtsinsel an den 100. Todestag des norddeutschen Komponisten erinnert. Aufgrund der Coronakrise mussten alle Veranstaltungen abgesagt werden. Nun entdeckt Sänger Ulf Bästlein dessen Liedschaffen wieder.
„Vielleicht waren die Nordseewellen die erste „Musik“, das erste arrangierte Stück, das der Komponist Gustav Jenner jemals hörte. Vielleicht waren der Wind, das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen das erste Zusammenspiel verschiedener Instrumente die der kleine Gustav in seinem Geburtsort Keitum auf Sylt vernahm. Schließlich sollten später Kritiker und Liebhaber seiner Werke die Meinung vertreten, in all seinen Kompositionen höre man es: das Meer,“ so der in Flensburg geborene und in Husum aufgewachsene Bassbariton Ulf Bästlein. Schon lange beschäftigt sich der Gesangsprofessor an der Musikhochschule Graz mit dem in Vergessenheit geratenen Oeuvre des norddeutschen Komponisten. So standen die Werke Jenners in den letzten Jahren immer wieder im Mittelpunkt der Konzertabende der jährlichen Meisterkurse Liedkunst im Schloss vor Husum, die Bästlein leitet. „Den Schwerpunkt seines umfangreichen Werkes bilden Liedkompositionen. Melodie und Atmosphäre waren diesem ‚Meister des Intimen‘ ebenso wichtig wie die Verdichtung der kompositorischen Mittel in kleiner und kleinster Form,“ so Bästlein. „Der frühe Tod Jenners im Alter von 54 Jahren im August 1920 verhinderte vermutlich eine dauerhafte Anerkennung seines Werkes.“
„Gehört Jenner auch nicht zu den bekanntesten Komponisten, so ist sein Erbe doch ein besonderes und er hat unbestritten einen Platz unter den bedeutenden Söhnen und Töchtern Schleswig-Holsteins verdient.“
Bassbariton Ulf Bästein (Foto: Mario Gimpel)
Dabei hatte sich der Dithmarscher Heimatdichter Klaus Groth schon früh für den jungen, hochbegabten Musiker eingesetzt. Auch Theodor Storm hatte sich bereits 1884 beeindruckt über den jungen Musiker geäußert, der ein gern gesehener Gast in seinem Hanerauer Alterswohnsitz wurde. Jenner fühlte sich diesen beiden um eine Generation älteren schleswig-holsteinischen Dichters zeitlebens tief verbunden. „Der Kieler Salon Klaus Groths stellte einen – bisher kaum wahrgenommenen – Glücksfall der europäischen Kulturgeschichte dar,“ weiß Bästlein. „Von dort aus öffneten sich für den jungen Komponisten die Türen zur Welt.“ Groth arrangierte geschickt ein Treffen zwischen Jenner und Johannes Brahms und sammelte Geld, um seinem Schützling das Studium bei seinem Freund in Wien zu ermöglichen. Mit dem als mürrisch geltenden Komponisten mit Dithmarscher Wurzeln hatte Klaus Groth Jenner einen unvermutet aufgeschlossenen und einsatzbereiten Förderer beschert. „Kaum ist Jenner in Wien, schreibt er einen bewegenden Brief an Klaus Groth, in dem er detailliert berichtet, wie Brahms ihn unter seine Fittiche genommen hat, ihm bei der Quartierssuche genauso geholten hat wie bei der Ausstattung der Wohnung und ihm den Weg in die Salons der Stadt ebnet“, so Bästlein. Sieben Jahre hielt es der Nordfriese Gustav Jenner in Wien aus, auch wenn ihm der Umgang mit dessen Einwohnern schwer fiel. Die norddeutsche Zurückhaltung wurde ihm in Wien mal so, mal so ausgelegt. Besonders das Prinzip der „österreichischen Gemütlichkeit“ stellte für den gebürtigen Sylter zeitlebens eine Unart dar.
Später wurde Jenner auf Empfehlung von Brahms und Groth zum Universitätsmusikdirektor in Marburg ernannt, wo bis zu seinem Tod zahlreiche Kompositionen entstanden, darunter über 150 Lieder, diverse Chorwerke sowie Instrumentalwerke für verschiedene Besetzungen. Gustav Jenner starb am 29. August 1920 in Marburg im Alter von 54 Jahren. Er hinterließ seine Frau Julie; seine beiden Söhne waren im Ersten Weltkrieg vor Jenners Tod gefallen.
Gehört Jenner auch nicht zu den bekanntesten Komponisten, so ist sein Erbe doch ein besonderes und er hat unbestritten einen Platz unter den bedeutenden Söhnen und Töchtern Schleswig-Holsteins verdient.
„Die Welt ist lauter Stille, nur mein Gedanke wacht.“
Lieder von Gustav Jenner nach Theodor Storm und Klaus Groth.
- Künstler: Ulf Bästlein, Charles Spencer
- Label: Naxos, DDD, 2019
- Bestellnummer: 9833893
- Erscheinungstermin: 12.6.2020