Harald Haugaard: „Vielleicht war er seiner Zeit voraus.“

An zwei Tagen im Juli kommen dänische und deutsche Musiker und Ensembles im Herrenhaus Pronstorf bei Bad Segeberg zusammen, um gemeinsam ein musikalisches Fest zu Ehren des Komponisten Carl Nielsen (1865-1931) zu feiern. Neben viel Musik des diesjährigen SHMF-Komponisten-Porträts werden die Musiker traditionelle und zeitgenössische dänische Folkmusik erklingen lassen. Begründer diese Carl Nielsen-WG ist der dänische Fiddle-Virtuose, Komponist und künstlerische Leiter des folkBALTICA-Festivals Harald Haugaard.

Harald Haugaard. Foto Sigrid Nygaard

Herr Haugaard, Sie sind Gastgeber der Carl Nielsen WG auf Gut Pronstorf. Wer sind Ihre Mitbewohner und welche Pläne haben Sie?

Nachdem das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) ja nicht in seiner ursprünglichen Form stattfinden kann, machen wir so eine Art Mini-Festival ohne Publikum auf Gut Pronstorf mit vielen tollen dänischen Künstlern und widmen uns der Komponisten-Retrospektive Carl Nielsen. Wir beschäftigen uns mit vielen seiner Kompositionen und blicken aus verschiedenen Blickwinkeln auf sein Werk und Repertoire. Und natürlich spielen wir seine Musik. Mit dabei sind zum Beispiel das Barockensemble Concerto Copenhagen, das Nielsens „Suite für Streichorchester“ spielt. Dazu kommt das Nordic String Quartet, eines meiner Lieblingsquartette überhaupt, die die besten Fachleute für Carl Nielsen sind und alle seine Streichquartette eingespielt haben. Dann kommt mit Musica Ficta ein Chor aus Dänemark, die Lieder von Carl Nielsen singen. Man muss wissen, dass er nicht nur ein Komponist für Sinfonien, Opern und Kammermusik war, sondern auch über 300 Lieder geschrieben hat, die bis heute in Dänemark sehr populär sind und die jedes Kind kennt. Natürlich ist auch mein eigenes Ensemble, die Helene Blum & Harald Haugaard Band, dabei und wir spielen die traditionelle Musik aus Carl Nielsens Kindheit. Er ist mit Liedern und Tanzmusik aufgewachsen, denn sein Vater war Spielmann und Geiger. Wir gehen zurück zu seinen Wurzeln und wollen so die faszinierenden Welten Carl Nielsens neu entdecken.

Sie sind seit Ihrer Kindheit mit Carl Nielsen vertraut und haben als Geiger viele seiner Werke schon selber gespielt. Was ist das Besondere an seinen Kompositionen?

Er ist hinsichtlich mehrerer Aspekte ziemlich einzigartig. Besonders als Sinfoniker ist Carl Nielsen weltberühmt. Mit seinen sechs Sinfonien, die von Dirigenten wie Leonard bernstein und Sir Simon Rattle dirigiert wurden, steht er in der europäischen Tradition von Schubert, Mendelssohn und Brahms. Aber das Werk von Nielsen ist unglaublich vielfältig und birgt viele Schätze. Er war der Komponist in Europa, der einerseits große Sinfonien und für seine Zeit avantgardistische Werke als auch gleichzeitig Volkslieder geschrieben hat. Wie gesagt, wir singen in Dänemark noch ganz viele seiner Kinder- und Volkslieder zu Weihnachten, Ostern und anderen Jahreszeiten, ohne zu wissen, dass er sie geschrieben hat. In Europa findet man sonst keinen Komponisten mit einem so vielseitigen Gesamtwerk. Sein Anliegen war, dass Musik lebendig ist und jedem gehört – dass alle Menschen Zugang zur Musik und ihrer einzigartigen Kraft haben. Er wollte Musik für und mit Menschen machen. Er war beseelt von dem Gedanken, eine Brücke zwischen Hoch- und Populärkultur schaffen zu können. Und das macht ihn so einzigartig.

Warum ist er in Deutschland dann nicht so bekannt?

Das ist schon kurios, denn er war zu seiner Zeit viel in Deutschland unterwegs, in Berlin und Dresden, Stuttgart, Leipzig, Köln. Und überall hat er gespielt. Sein letztes Werk, ein großes Orgel-Konzert, wurde in Lübeck uraufgeführt. Zu seiner Zeit war er sehr bekannt in Deutschland und pflegte Umgang mit berühmten Musikerkollegen wie Arnold Schönberg. Vielleicht war seine Musik seiner Zeit voraus, denn eine dauerhafte Anerkennung in Deutschland blieb ihm verwehrt. Die Komponisten-Retrospektive eines so großen Klassikfestivals wie dem SHMF hätte ihm jetzt vielleicht nachträglich noch zum internationalen Durchbruch verhelfen können. Aber wegen der Corona-Pandemie können wir nun nur einen kleinen, feinen Ersatz leisten.

Wie viele Ihrer Kollegen sind Sie vermutlich begierig, wieder künstlerisch aktiv zu werden. Wie haben Sie die Zeit des kulturellen Corona-Lockdowns erlebt?


Die letzten Monate waren eine Katastrophe für die Musik und das Kulturleben überhaupt. Und wir sind ja noch nicht durch damit, auch wenn wir jetzt beim „Sommer der Möglichkeiten“ wenigstens ein paar kleine Konzerte geben können. Auch im Rahmen der folkBALTICA wird es ein paar Sommerkonzerte geben. Ich habe normalerweise 150 Reisetage im Jahr. Nun habe ich die Zeit zuhause in Dänemark mit meiner Frau und Familie verbracht. Wir haben versucht, zusammen ein paar Online-Formate und Streaming-Angebote zu produzieren. Das war wichtig für uns als Künstler. Denn der finanzielle Aspekt ist eine Sache, aber die Identität als Künstler leidet unter der Situation; dass man nicht rausgehen und zusammen mit Publikum, Veranstaltern und Mitmusikern einen Konzertabend gestalten kann.

Außerdem haben wir die Zeit genutzt, um neues Repertoire zu erarbeiten und aktuelle Projekte zu kuratieren, so dass wir, wenn die Konzertbühnen wieder öffnen, sofort bereit sind und besser als je zuvor spielen können.

In Deutschland gibt es einen Rettungsschirm für die Kultur. Wie sieht es in Dänemark aus?

So etwas ähnliches gibt es auch in Dänemark, aber die Maßnahmen kamen ziemlich spät. Kultur und besonders die Musik, sind ja etwas Essentielles. Vorher hat man kaum darüber nachgedacht, wie wichtig Kultur zum Leben und für die Gemeinschaft ist. Wenn man diese Erkenntnis jetzt aus der Corona-Krise mitnimmt, hat die Pandemie wenigstens etwas Gutes. In Dänemark ist in den letzten Monaten eine neue Tradition des gemeinsamen Singens, der Fellesang, entstanden. Es gab viele Radio- und Fernsehsendungen, in denen zum Mitsingen aufgerufen wurde. Das ist für mich als Künstler und Festivalleiter ein hoffnungsvolles Zeichen, wie viel den Menschen die Musik bedeutet.

Die Mitschnitte des musikalischen Zusammentreffens in Pronstorf sind im August und September auf NDR Kultur zu hören:

So 16.08.2020 | 11:00 Uhr | NDR Kultur
Teil 1: Sonntagskonzert
So 13.09.2020 | 22:00 Uhr | NDR Kultur
Teil 2: Soiree

Wer sich darüber hinaus für Carl Nielsen interessiert, dem seien folgende Podcasts empfohlen:

  • Carl Nielsen, der Unberechenbare
    Ein Podcast über den dänischen Nationalkomponisten mit Prof. Dr. Wolfgang Sandberger und Prof. Dr. Tomi Mäkelä
    ab dem 6. Juli jeden Montag eine neue Folge

  • Kindheit auf Fünen
    Ein Podcast mit Musik von Carl Nielsen und Auszügen aus dem autobiographischen Werk »Eine Kindheit auf Fünen« mit Maria Hartmann, Sprecherin, Ulrike Payer, Klavier
    Die genauen Termine werden noch veröffentlicht.

Informationen: shmf.de/nielsen