Normalerweise hätte Xavier de Maistre den Sommer im Norden Deutschlands verbracht, denn der weltweit gefeierte Solo-Harfenist ist der diesjährige Porträtkünstler des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF). Durch die coronabedingte Absage des Klassikfestivals wurden seinen Reiseplänen jedoch durchkreuzt. Wie der sympathische 46jährige die Zuschauerherzen trotzdem erobern will, verriet er dem Kulturonkel im Interview.
Normalerweise würden Sie jetzt auf gepackten Koffern sitzen und Ihre Harfe als Porträtkünstler beim SHMF erklingen lassen. Ihre Auftritte mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Wie geht es Ihnen damit?
Ich habe mich in den letzten Jahren immer beschwert, dass es mit dem Reisen und den Auftritten zu viel wurde. Nun wurde ich gezwungen zuhause zu bleiben. Ich war noch nie solange am Stück an einem Ort. Normalerweise bin ich ja jeden zweiten Tag im Flieger und wäre normalerweise jetzt auf Tournee in Korea und hätte noch viele andere Termine vor dem Schleswig-Holstein Musik Festival gehabt. In den ersten Wochen war ich ein bisschen ratlos und brauchte ein wenig Zeit, um mich neu zu orientieren. Die Konzertplanungen bei uns klassischen Musikern gehen ja bis zu zwei Jahre im voraus. Plötzlich wussten wir nicht mehr, was in den nächsten Tagen passiert. Das ist immer noch eine komische Situation und noch immer ist es schwierig, irgendetwas zu planen, weil wir nicht wissen, wann wir wieder vor Publikum spielen können und wann wir in großen Sälen auftreten können. Wenn wir wenigstens wüssten, dass es in drei oder sechs Monaten wieder losginge, dann könnte man sich besser orientieren. Diese Unsicherheit hat bei vielen für Unruhe und Existenzangst gesorgt. Für mich war der Lockdown nicht so schwierig, weil ich es gewohnt bin, oft allein im Hotel zu sein, mich selbst zu beschäftigen und neue Pläne zu entwerfen. Ich habe die Zeit genutzt, um mir neues Repertoire anzueignen und viel Zeit mit der Familie verbracht. Ich glaube, meine Eltern haben mich schon lange nicht mehr so oft gesehen wie in den letzten Monaten.
Seit kurzem kann man sich in Frankreich nach 2,5 Monaten Lockdown wieder frei bewegen. Was haben Sie als erstes getan?
Das erste, was ich gemacht habe, war, zum Frisör zu gehen. Ich habe drei Monate ohne vernünftigen Haarschnitt leben müssen, das war schon sehr grenzwertig. Außerdem habe ich Freunde besucht und viel Sport getrieben. Ich lebe ja am Meer in Monaco und es gibt bestimmt schlechtere Orte für einen Lockdown. Worauf ich mich nun besonders freue, ist, dass ich nächste Woche nach Paris fahre, um dort mit Rolando Villazón mein Album aufzunehmen. Diesen Termin mussten wir mehrmals verschieben. Außerdem ist es eine Erleichterung, dass ich nun auch, ohne in Quarantäne gehen zu müssen, nach Deutschland einreisen kann. Wie es im Herbst weiter geht, weiß momentan noch niemand; und ob man dann wieder nach Japan und Korea reisen kann, ist auch noch fraglich.
Leider sind wir Musiker ja die letzten, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können. Man darf im Flugzeug wieder nebeneinander sitzen, aber nicht im Konzertsaal. Das finde ich nicht nachvollziehbar. Vor allem, weil wir in Theatern und Konzertsälen die Möglichkeit hätten, Abstand zu halten. Ich hoffe, dass es sich in den nächsten Wochen weiter entspannt.
Viele Musikerkollegen haben die Zwangspause genutzt für Wohnzimmerkonzerte oder Online Meisterkurse. War das eine Option für Sie?
Diese socia media-Auftritte deprimieren mich eher, denn ich brauche die Interaktion mit dem Publikum. Am Anfang war es noch spannend, die vielen Orchester zu beobachten, dessen Musiker zuhause im Wohnzimmer ihre Stimmen aufgenommen haben. Aber es ist das Gegenteil von dem, was wir wollen: sich vom Publikum und den Musikerkollegen inspirieren zu lassen. Es ist eine lebendige Kunst. Wenn jeder im Schlafzimmer seinen Part spielt, ist es zwar technisch beeindruckend, aber künstlerisch unbefriedigend. Es ist in etwa so, als ob man einen Sternekoch fragen würde, ob er seine Gerichte in Dosen verschickt. Es war anfangs gut, um Kontakt zu seinen Fans zu pflegen, aber auf Dauer ist es keine Alternative. Ich warte lieber, bis wieder andere Formen möglich sind.
Für das SHMF werden wir im Sommer ein paar Online-Formate aufnehmen. Immer wenn die Tonqualität gut und das Bild schön ist, kann man vielleicht ein neues Publikum gewinnen. Online zu unterrichten war deutlich besser. Meine Studenten sind auf ganz Europa verteilt und ich hatte mehr Zeit für sie mit weniger Ablenkung. Sie haben Videos aufgenommen und mir geschickt, ich habe Kommentare vorbereitet und wir haben online daran gearbeitet. Dabei haben wir tolle Fortschritte gemacht.
Sie hätten beim SHMF insgesamt neun verschiedene Konzertprogramme zur Aufführung gebracht. Das für Juli geplante Konzert mit Rolando Villazón ist auf den Januar verschoben worden. Können Sie schon verraten, was das Publikum erwartet?
Es ist ein sehr spannendes Projekt. Wir machen südamerikanische Musik aus Argentinien, Brasilien, Kuba und Mexiko. Es sind teilweise populäre Lieder, weil die Harfe in der Volksmusik eine wichtige Rolle spielt – ein schönes, abwechslungsreiches Repertoire. Die Mischung funktioniert besser als ich erwartet hätte. Das Album wird im Herbst veröffentlicht, dann gehen wir mit dem Programm auf Tournee und sind am 10. Januar im Deutschen Haus in Flensburg und in ganz Deutschland.
Was passiert mit den anderen Programmen? Verschwinden die ein für alle Mal in der Schublade?
Man kann die Konzerte nicht einfach verschieben, weil die Planungen für die nächsten Jahre schon fortgeschritten sind. Ich habe lange mit dem Intendanten Christian Kuhnt und seinem Team diskutiert, wie das Festival in irgendeiner Form noch stattfinden kann. Es war eine schwierige Entscheidung. Nach den jetzigen Planungen wird das Eröffnungskonzert live auf 3SAT übertragen mit den Porträtkünstlern der letzten fünf Jahre. Dann spiele ich das Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra für ARTE und wir drehen gleichzeitig eine Dokumentation. Das Ganze wird interaktiver gestaltet, d.h. ich werde Interviews geben, mehr über die Stücke und das Instrument erzählen. Wir haben auch für das Harfenfest, das jetzt nicht mit internationalen Künstlern, sondern mit meinen ehemaligen Studenten geplant ist, die Orchesterstellen in Norddeutschland haben, zwei sehr schöne Orte in Schleswig-Holstein ausgesucht – diese Konzerte werden live im Radio übertragen. Das Konzert mit Roland Villazón ist dann im Januar und vielleicht kommen im nächsten oder übernächsten Jahr noch weitere Projekte auf den Spielplan des Festivals. Das bedeutet: die Residenz wird quasi über das ganze Jahr und darüber hinaus verteilt. Wir werden viel mit Neuen Medien arbeiten und dadurch hoffentlich ein neues Publikum für die klassische Musik und das Festival gewinnen sowie Leute für die Harfe begeistern.
Was für mich das SHMF ausmacht, sind die Locations – Wasserschlösser, Kirchen, Werften. Deswegen habe ich gesagt, wenn wir schon mit Fernsehbildern arbeiten, sollten wir die schönsten Spielstätten in Szene setzen. Natürlich fehlt der direkte Kontakt und Austausch mit dem Publikum, aber ich werde wenigstens die Beiräte vor Ort kennenlernen.
In Deutschland gibt es einen Rettungsschirm für die Kultur. Wie sieht es in Frankreich aus?
In Frankreich bekommt man als Künstler Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld. Das Problem ist, dass man als freischaffender Künstler davon nicht profitiert. Wir sind nirgendwo angestellt und arbeiten frei auf der ganzen Welt. Alle Veranstalter habe die Höhere-Gewalt-Klausel angewandt und müssen daher kein Ausfallhonorar zahlen. Bei mir wurden 48 Konzerte abgesagt und ich habe bisher keine Entschädigung bekommen. Wir machen uns alle Sorgen, dass die Kultur besonders leidet, weil Sponsoren ausfallen, die Konkurrenz wird härter. Aber ich hoffe, die Menschen haben gemerkt, wie wichtig geistige Nahrung ist und welchen Stellenwert die Kultur hat.
Ich werde jedenfalls in Zukunft mit noch mehr Freude auf die Bühne gehen. In den letzten Jahren bin ich so viel gereist, dass ich etwas müde war und mich etwas verbraucht gefühlt habe. Jetzt habe ich mir vorgenommen, jedes Konzert besonders zu genießen. Mir ist bewusst geworden, welches Privileg es ist, seine Kunst teilen zu können und jedes Konzert intensiv zu erleben.
Wie sind Sie überhaupt zur Harfe gekommen und was reizt Sie bis heute an diesem Instrument?
Meine Eltern haben mich als Kind in die Musikschule geschickt, weil sie meinten, es gehört zu einer guten Ausbildung dazu. Ich war dort von der Harfenlehrerin so verzaubert, dass ich dann das Instrument ausgesucht habe, das sie unterrichtet hat. Die Beziehung zum Lehrer ist am Anfang sehr wichtig, damit man am Ball bleibt. Und das Instrument hat auch sehr gut zu mir gepasst. Ich bin eher ein Individualist und liebe es, allein Konzerte zu gestalten. Mit der Harfe hat man so viele Möglichkeiten: man kann im Orchester spielen, man kann Kammermusik machen und man kann Soloabende bestreiten.
Die Harfe galt lange Zeit eher als Instrument höherer Bürgertöchter und nicht als Soloinstrument. Wie haben Sie es geschafft, die Harfe aus der Klischeeecke zu befreien?
Dass die Harfe ein Schattendasein fristet, liegt vor allem am fehlenden Repertoire. Wir haben nun mal keine Konzerte von Beethoven, Mozart oder Brahms. Natürlich würde ich gern Originalkompositionen für die Harfe spielen, andererseits bin ich so gezwungen, mich immer wieder neu zu erfinden. Und wenn ich sehe, dass die Harfe heute als gleichberechtigtes Soloinstrument anerkannt wird, erfüllt mich das mit etwas Stolz. Dass ein Klassikfestival wie das SHMF einen Harfenspieler als Porträtkünstler engagiert, wäre vor zehn Jahren nicht möglich gewesen. Ich freue mich dazu beigetragen zu haben.
Sie waren zehn Jahre lang Solo-Harfenist bei den Wiener Philharmonikern: eine Traumstelle, die Sie mit 24 bekamen und dann für eine Solokarriere mit zunächst ungewissem Ausgang aufgaben. Haben Sie diesen mutigen Schritt je bereut? Insbesondere jetzt, wo Sie als selbständiger Künstler mangels Auftritten keinerlei Einnahmen haben?
Ich habe es nie bereut. Das Leben, was ich jetzt führe, entspricht meinem Temperament und es ist eine spannende Rolle, Pionierarbeit zu leisten. Statt im Orchester die längste Zeit mit Warten auf einen kurzen Einsatz zu verbringen, versuche ich lieber, populäre Musik auf der Harfe zu spielen, zu arrangieren und zu kombinieren. Natürlich wäre es jetzt während der Coronakrise viel einfacher, in einem Orchester angestellt zu sein. Auch wenn es momentan noch schön ist, mal nicht dauernd Koffer zu packen und stattdessen mehr Zeit für die Familie zu haben – die Unsicherheit, wie und wann es wieder losgeht, nagt schon an mir. Umso mehr freue ich mich nun auf den „Sommer der Möglichkeiten“ in Schleswig-Holstein.
Zur Person:
Xavier de Maistre wurde 1973 im französischen Toulon geboren. Mit neun Jahren begann er seine Ausbildung zum Harfenisten. Mit Mitte 20 trat der Franzose seine Stelle als Soloharfenist der Wiener Philharmoniker an – eine Aufgabe, von der er immer geträumt hatte, die ihn aber nicht vollständig ausfüllte. Heute jettet Xavier de Maistre rund um den Globus, seine Harfen stehen in verschiedenen Ländern für ihn bereit, damit der Virtuose in Konzertsälen wie der Carnegie Hall New York oder der Elbphilharmonie das Publikum begeistern kann.
Sommer der Möglichkeiten
Während des Festivalzeitraums Juli und August 2020 werden Konzerte für das Publikum im Fernsehen, Internet, Radio, als Podcast oder live erlebbar und an den schönsten Spielstätten des Landes aufgezeichnet. Das Programm ist so konzipiert, dass möglichst kurzfristig auf Veränderungen reagiert werden kann. Deshalb wird es auch sukzessive veröffentlicht. Details zu Daten, Orten, Sendeterminen oder gegebenenfalls Eintrittskarten werden auf www.shmf.de zu finden sein und ständig aktualisiert.