Das „Orchester im Treppenhaus“ aus Hannover ist nicht nur ein besonderes Ensemble mit Akkordeon und E-Gitarre, sondern hinterfragt die Gepflogenheiten des Klassik-Betriebs, entwickelt neue Konzertformate und will Musik abseits ausgetretener Pfade machen. Da treffen maximal tanzbarer Klangrausch aus Minimalgrooves und Live-Beats auf Elemente zeitgenössischer Musik und versetzen das Publikum völlig ohne elektronische Sounds in Tanzekstase.
Am 8. August kommen die Musiker mit ihrem Programm „DISCO“, das sie schon auf Festivals wie „Fusion“ oder „Detect Classic“ gespielt haben, im Rahmen des SHMF auf die Kulturwerft Gollan.

Ein Gespräch mit dem Bassklarinettisten Sem Ribeiro Albuquerque Wendt:
Was erwartet das Publikum?
Bei unserem Programm „DISCO“ wird Minimal Music, zum Beispiel von Steve Reich und John Adams, mit tanzbaren Beats kombiniert; aber wir spielen auch Stücke, die eigens für uns komponiert worden sind. Von Komponisten aus der ganzen Welt, die wir über die Jahre kennengelernt haben und die wir gebeten haben, für uns Werke zu schreiben, die sowohl musikalisch spannend sind als auch wirklich gut tanzbar. So verwandelt sich der Konzertsaal in eine Art Club – ganz ohne Verstärker.
Viele klassische Ensemble kämpfen ja mit der Überalterung des Publikums. Bei euch tanzt der ganze Saal. Was ist euer Geheimnis und wie schafft ihr es, dass selbst im bestuhlten Saal die Leute elektrisiert mitgehen?
Wir versuchen von der Bühne aus, das Publikum zu ermutigen, sich ebenfalls zu bewegen – und zeigen das auch selbst: Wir stehen meistens auf der Bühne und nutzen jede freie Minute zum Tanzen. Auch unser Dirigent Thomas macht das. Er dirigiert im Grunde nicht nur uns, sondern fast den ganzen Saal mit.
Wie ist das Ensemble entstanden und woher kommt der Name „Orchester im Treppenhaus“?
Uns gibt es seit mehr als 15 Jahren. Unser Dirigent Thomas Posth hat das Projekt als Studierenden-Ensemble gegründet, um Musiker zu haben, mit denen er immer arbeiten kann. Die Idee des Ensembles war es von Anfang an, Konzerte immer ein bisschen anders zu machen und an Orten zu spielen, an denen normalerweise keine Konzerte stattfinden – also ein Requiem vor dem Schlachthof oder eben auch im Treppenhaus. Im Schauspiel Hannover gibt es ein großes, altes, denkmalgeschütztes Treppenhaus, in dem das erste Konzert stattgefunden hat. Aus Mangel an einer besseren Idee für einen Ensemblenamen haben wir uns „Orchester im Treppenhaus“ genannt.
Wie sieht eure musikalische Arbeit konkret aus? Komponiert ihr selbst? Arrangiert ihr bekannte Werke oder darf jeder was vorschlagen?
Wir arbeiten parallel an verschiedenen Formaten, für die es meistens eine individuelle künstlerische Leitung gibt, die die Hauptverantwortung übernimmt. Für das große Ganze hat dann Thomas die Gesamtleitung. Dabei arbeiten wir im Kollektiv und treffen uns regelmäßig im Planungsteam. Manche Stücke schreiben wir selbst, andere werden gezielt in Auftrag gegeben, wenn wir denken, ein bestimmtes Werk würde sich in Kammerorchesterbesetzung gut machen. Zum Beispiel haben wir Schuberts „Winterreise“ hocharrangieren oder Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“ für eine zwölfköpfige Besetzung herunter arrangieren lassen.
Ihr stellt immer auch die Frage: Was kann klassische Musik heute? Habt ihr darauf eine Antwort gefunden?
Die Gefahr für klassische Musik ist, dass sie als langweilig, befremdlich oder unnahbar gilt. Unserer Erfahrung nach kann man aber mit fast jeder Art von Musik – ob Barock, Romantik oder zeitgenössische Klänge – das Publikum begeistern, wenn der Kontext stimmt. Wir schaffen Räume, in denen klassischer Musik mit Offenheit begegnet wird, und begleiten das Publikum gewissermaßen an der Hand. Dadurch gelingt es oft, eine sehr diverse Hörerschaft zu erreichen.
Das Orchester im Treppenhaus spielte schon in der Elbphilharmonie und auf dem Fusion Festival. Nun steht das Schleswig-Holstein Musik Festival an. Was bedeutet dieser Auftritt für euch?
Auf solchen renommierten Festivals spielen zu dürfen, ist immer eine coole Sache. Das hätte ich mir als Teenager nicht träumen lassen. Besonders freut es uns, dass wir mit Musik, die irgendwie zwischen den Stühlen sitzt, auch auf so großen, traditionsreichen Festivals Anerkennung finden. Wir sind kollektiv sehr stolz darauf, wohin sich unser Projekt über die Jahre entwickelt hat.
Ihr tretet n der Kulturwerft Gollan auf, einer ehemaligen Schiffswerft mit Industriecharme. Was macht solche Orte für euch besonders?
Die größte Herausforderung ist oft die Akustik, aber wir haben zum Glück zwei Tonmeister:innen im Team, die für den richtigen Klang sorgen. Solche Orte laden die Musik emotional anders auf und beeinflussen auch das Konzerterlebnis – man spürt noch die Aura des Orts, was das Publikum oft öffnet und das Konzert besonders macht.
Vom Studienprojekt zum freien Ensemble: Ist das Orchester inzwischen euer Hauptjob?
Als freies Orchester ist es kaum möglich, von Projektförderungen eine volle Stelle zu finanzieren. Für die meisten von uns ist das Orchester ein wichtiger Teil unseres künstlerischen Lebens, aber eben nur einer von mehreren. Je nach Instrument gibt es mehr oder weniger Einsatzmöglichkeiten, weshalb etwa Streicher häufiger im Einsatz sind als seltener besetzte Instrumente wie meine Bassklarinette oder die Tuba. Das Leitungsteam versucht zwar immer, alle Ensemblemitglieder gleichberechtigt einzusetzen, aber das gelingt nicht immer.
Was wünscht ihr euch vom Publikum am Konzertabend? Stille Bewunderung oder hemmungsloses Mittanzen?
Eine Mischung von beidem: wenn das Publikum in den Momenten, wo es still wird und knistert, den Atem kurz anhält, und dann wieder sofort losspringt und ekstatisch mittanzt. Das wäre das Nonplusultra.
Warum sollte man das Konzert auf keinen Fall verpassen?
Die Kombination aus dem besonderen Ort und unserer gleichzeitig mitreißenden und herausfordernden Musik ist ein Erlebnis, das man wenigstens einmal im Leben gemacht haben sollte.
INFO:
Freitag, 8. August, 20 Uhr
Orchester im Treppenhaus: „Disco!“
Kulturwerft Gollan, Halle 9
After-Show Party mit dj textme
Karten für 29 Euro unter 0431 23 70 70 und an der Abendkasse