Dörte Hansen: „Wir bringen die Geschichte zum Klingen“

Nach ihrem fulminanten Debütroman „Altes Land“ und dem Bestseller „Mittagsstunde“ setzte Dörte Hansen 2022 mit dem gefeierten Werk „Zur See“ ihre literarische Reise fort – und zwar mitten hinein in die rau-wogende Landschaft einer fiktiven Nordseeinsel. Hansen erzählt von den Menschen, die hier leben, von ihren Sehnsüchten, ihrem Kampf gegen die Natur und gegen sich selbst. Im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) liest die Autorin, die in Husum geboren wurde und für ihre einfühlsamen Porträts norddeutscher Charaktere bekannt ist, in Wilster und auf Föhr aus ihrem Roman. Musikalisch begleitet wird sie dabei von Thomas Niehaus und Carolina Bigge, die dem Abend eine ganz besondere klang-poetische Note verleihen. 

Autorin Dörte Hansen liest beim SHMF in Wilster und auf Föhr. Foto Hansen

In Ihrem Roman „Zur See“ erzählen Sie von einer alteingesessenen Inselfamilie, die durch äußere Einflüsse ins Wanken gerät. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert und gibt es reale Vorbilder?

Die Frage, ob es reale Vorbilder gibt, wird offenbar intensiv und heftig diskutiert, auch oder gerade auf den Inseln und Halligen. Das höre ich jedenfalls immer wieder. Angeblich gab es auf Föhr sehr lange eine Art Fragerunde, in der man fragte „Hoker as hoker“, also: „Wer ist wer?“ Man war sich sicher, dass es nur auf Föhr spielen konnte. Aber das gleiche habe ich von Borkum gehört. Und von Amrum. Aber es gibt tatsächlich kein wirklich reales Vorbild. Ich habe mir diese Insel ausgedacht und so zusammengebaut, wie ich sie für die Geschichte brauchte. Aus allen Nordseeinseln, die ich kenne. Das sind eigentlich ziemlich viele, aber keine davon wirklich gut. Ich habe nie auf einer Nordseeinsel gelebt, aber ich war viel auf den Halligen, vor allem auf Langeness.Natürlich auf Sylt, auf Föhr, auf Amrum, auch auf Fanö, auf Römö usw.. Also es ist wirklich und sehr bewusst eine fiktive Insel.

Gab es irgendwelche Erlebnisse oder Begegnungen mit den Menschen dort, die sie inspiriert haben?

Nein, zumindest nicht bewusst. Meine Bücher beginnen immer mit einer Frage oder mit einem Bündel von Fragen. Bei „Zur See“ war es für mich die Frage, warum wir eigentlich alle so sehr das Meer lieben? Es ist ja eigentlich kein sehr friedliches Element. Auch kein Element, das den Menschen guttut; im Gegenteil, es ist für uns ein sehr gefährliches Element, tödlich. Wir können nicht lange in der See überleben. Aber warum verklären wir eigentlich alle das Leben auf den Inseln so sehr? Diese Sehnsucht nach einer Insel ist ja sehr verbreitet, obwohl das Leben auf den Inseln immer extrem hart gewesen ist. Dieser Widerspruch hat mich interessiert.

Haben Sie auf die Frage eine Antwort gefunden?

Darum geht es beim Roman-Schreiben nicht. Sondern darum, sich mit dieser Frage zu befassen, also diese ganz starke Verbindung zu sehen, die auch meine Familie Sander im Roman hat, die ich erfunden habe. Auch sie hat eine Art fast verzweifelte Liebe zu dieser Insel.

Die Figuren wirken oft schweigsam, fast hart, aber sind doch voller Sehnsucht. Wie entwickeln Sie solche ambivalenten Charaktere?

Meine Figuren sind Nahaufnahmen. Also ich gucke mir meine Figuren sehr genau an. Und ich glaube, dann sieht man auch im wahren Leben die großen Widersprüche in jedem und jeder von uns. Oft wird mir gesagt, meine Figuren seien so skurril, so knorrig oder so schräg. Ich finde das eigentlich nicht, sondern glaube, es sind einfach Menschen, die auf eine ganz alltägliche Art und Weise in sich widersprüchlich sind, wie wir alle.

Und sie sind typisch norddeutsch, denn sie reden wenig. Scheuen Sie sich vor Dialogen?

Ich weiß gar nicht, ob das typisch norddeutsch ist. Ich glaube, es ist ein Klischee, dass wir Norddeutschen nicht viel sprechen. Aus meiner Familie zum Beispiel kann ich das nicht bestätigen. Aus meinem Dorf auf der nordfriesischen Geest ist das auch nicht so. Aber was stimmt: ich habe es nicht wirklich so mit Dialogen. Ich weiß selbst nicht genau, woran es liegt. Vielleicht denke ich einfach, ich kann sie nicht gut schreiben. Oder es liegt daran, dass ich sehr rhythmisch schreibe. Das war bei „Zur See“ noch mal stärker als bei den anderen beiden Büchern. Ich hatte einen bestimmten Ton im Kopf, fast so eine Art Meereston, der an- und abschwillt wie Wellen. Ich wollte unbedingt diesen Ton treffen. Das Dialogschreiben hätte mich in meinem Rhythmus gestört, weil man unmöglich einen Dialog rhythmisch schreiben kann, ohne dass es irgendwann albern wirkt.

In „Zur See“ geht es – wie schon in früheren Romanen – wieder ums Verschwinden. Warum kommen Sie immer wieder auf dieses Thema zurück?

Auch das ist nichts, was ich mir bewusst überlege. Ich setze mich nicht hin und sage: Jetzt will ich einen Roman über das Verschwinden schreiben. In diesem Roman verschwindet eine der Figuren, damit das Gefüge der Familie in Bewegung kommt. Es ist nicht unbedingt das Verschwinden, über das ich schreibe, sondern die Veränderung. Die Menschen auf der Insel, die ich da beschreibe, sind alle aufgewachsen mit einem bestimmten Bild von sich und ihrer Familie. Das sind Leute mit Walfänger-Vergangenheit, eine Familie erfolgreicher Seefahrer. Aber jetzt fahren die Männer nicht mehr zur See und die Frauen warten nicht mehr auf die Männer. Da endet ein Zeitalter und im neuen ist man noch nicht ganz angekommen. Mich interessiert dieser Übergangsraum; die Frage: Was machen wir, wenn die alten Gewissheiten enden und wir die neuen noch nicht gefunden haben.

Sie sagten ja schon, das Meer spielt eine zentrale Rolle als Lebensgrundlage, Bedrohung, aber auch Trost und Faszinosum. Welche persönliche Beziehung haben Sie denn zur See und zum Meer?

Ich habe genau diese ambivalente Beziehung. Mich zieht es immer ans Meer. Ich arbeite mit Blick auf den Husumer Hafen. Ich bin aus Hamburg wieder an die Nordsee gezogen. Ich kann mir selbst nicht ganz erklären, warum es so ist, aber diese Sehnsucht nach dem Meer ist schon sehr stark.

Im Rahmen des SHMF lesen Sie auf Föhr und in Wilster – zwei sehr unterschiedliche Orte. Inwieweit beeinflusst der Leseort die Auswahl der Textstellen und Ihre Stimmung beim Vorlesen?

Wir spielen in beiden Orten das gleiche Programm. Aber wir sind in beiden Orten noch nicht gewesen, daher wird es spannend. Wenn ich Solo-Lesungen mache, habe ich allerdings festgestellt, dass es ein großer Unterschied ist, wo man liest. Jede Lesung hat eine bestimmte Art von Energie und Atmosphäre. Das kann man vorher gar nicht planen. Auf einer Insel zu lesen, ist natürlich bei diesem Buch besonders spannend.

Was bedeutet es für Sie, bei einem Festival aufzutreten, das ja eigentlich der Musik gewidmet ist? Sehen Sie da eine Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik? Sie sprachen ja gerade schon vom Rhythmus der Sprache.

Ich komme sehr stark vom Hören und vom Ohr und schreibe meine Texte immer, nachdem ich sie laut spreche. Wenn ich am Schreibtisch sitze, bin ich die ganze Zeit am Murmeln. Ich komme ja vom Radio, das heißt, ich hatte schon immer viel mit Hören zu tun. Außerdem komme ich aus einer Familie begeisterter Sängerinnen und Sänger, wir haben immer Musik gemacht und gesungen. Zusammen mit Thomas Niehaus und Carolina Bigge bringen wir beim SHMF die Geschichte zum Klingen.

In „Mittagsstunde“ spielt die Musik auch inhaltlich eine große Rolle. Da wusste man quasi schon, welche Songs man erwarten durfte. Wie sieht das musikalisch bei „Zur See“ aus?

Wir versuchen, vieles von dem Roman musikalisch zu fassen. Das heißt, wir überlegen uns, wie könnte eine große Ballade von den schrecklichen Fluten klingen? Außerdem gibt es in dem Buch hin und wieder auch Hinweise auf Musik. Eske Sander hat zum Beispiel eine ganz starke Neigung zu Heavy Metal. Das werden wir auch einbauen. Dann werden wir natürlich ein bisschen mit dem Shanty-Motiv arbeiten. Aber vor allem versuchen wir, die Naturklänge selbst herzustellen – die beiden anderen machen das hauptsächlich, ich höre nur staunend zu. Wir versuchen also, Wind, Wellen, Wale und all solche Töne auf der Bühne zu erzeugen. Ich glaube, das wird ganz spannend.

„Altes Land“ und „Mittagsstunde“ sind ja relativ zeitnah nach dem Erscheinen verfilmt worden. Wie sieht es mit „Zur See“ aus?

Es gibt schon eine erste Drehbuchfassung, die noch nicht ganz fertig ist. Dann sehen wir weiter. Diesen Roman zu verfilmen, ist wirklich noch einmal schwieriger als „Mittagsstunde“. Unter anderem weil in „Zur See“ nicht viel geredet wird. Das heißt, man muss die Landschaft sprechen lassen. Das ist für so ein Drehbuch natürlich eine große Herausforderung. Aber es ist geplant und in Arbeit.

Geplant ist bestimmt auch schon der nächste Roman. Mögen Sie schon verraten, was uns als nächstes erwartet?

Ich habe gerade vor diesem Interview meine Datei zugemacht. Was ich verraten kann, ist, dass er wieder in Norddeutschland spielen wird. Aber über ein Buch zu sprechen, das noch nicht existiert, klingt immer furchtbar töricht. Man versucht, den Leuten zu erklären, worum es geht, und dann entwickelt sich die Geschichte plötzlich ganz anders. Daher spreche ich ungern über ein noch nicht geschriebenes Buch.

INFO:

Montag, 7. Juli, 19.30 Uhr
Colosseum Wilster

Dienstag, 8. Juli, 19.30 Uhr
Nationalparkhalle Wyk/Föhr

Karten unter 0431 23 70 70