Künstler und Freigeist: Jens Rusch zum 75. Geburtstag

Er ist Künstler, Freimaurer und Freigeist, Bundesverdienstkreuzträger und Initiator der legendären Wattolümpiade: der Dithmarscher Künstler Jens Rusch. Am 26. April feierte er seinen 75. Geburtstag.

Jens Rusch in seinem Atelier. Foto Guballa

Wie fühlt sich die 75 denn an?

Wenn man all die gesundheitlichen Krisen bedenkt, die ich hinter mir habe – insbesondere den Krebs –, dann erfüllt mich mein 75. Geburtstag mit Demut und Dankbarkeit. Ich habe 25 Jahre geschenkt bekommen, und es ist ein Geschenk, dass ich heute bei leidlicher Gesundheit die Zeit habe, all das zu reflektieren. Oft denke ich an meine Anfänge hier in Dithmarschen zurück.

Ich wurde 1950 in Neufeld geboren. Mein Vater war Fischer, und wenn Sturm war, konnte er nicht hinaus auf See – dann wurde ordentlich geflucht. Auch unser Nachbar war Fischer – Hermann Schlecht, der einen kleinen Kutter besaß. Mit fünf Jahren kam ich in die Schule, eine zweiklassige Dorfschule in Katrepel. Das war meine erste Begegnung mit „kosmopolitischer Bildung“. Ich war der Kleinste und Jüngste – gerade an der Schwelle zum sechsten Lebensjahr – und wurde zum Prügelknaben.

Ein Nachbarsjunge, Sohn eines Bauern, hatte großen Spaß daran, mich auf dem Schulweg abzufangen und zu verprügeln. Wenn ich weinend nach Hause kam, nahm mich Hermann Schlecht auf den Schoß – und begann zu zeichnen. Kutter und Pferde waren seine Motive. Ich habe seine Zeichnungen nachgezeichnet – fünf Jahre lang. Das Weinen hörte auf, ich wurde ruhig. Rückblickend war das der Beginn meiner Maltherapie – wenn man so will.

In dieser frühen Lebensphase wurden meine künstlerischen Wurzeln gelegt. Ich fand Freude am Zeichnen – und habe es nie wieder aufgegeben. Es blieb für mich stets mit einem therapeutischen Hintergrund verbunden.

Wie ging es weiter nach deiner Kindheit in Dithmarschen?

Wir zogen dann nach Brunsbüttel. Nach der Volksschule – heute würde man Grundschule sagen – machte ich eine Elektrikerlehre bei der Firma Ahlf. Einen höheren Schulabschluss hatte ich nicht, meine Lehrer hielten es nicht einmal für nötig, meinen Eltern zu sagen, dass ich hätte studieren können.

Ich war unzufrieden, fühlte mich fehl am Platz. Die Arbeit machte mich nicht glücklich – sie machte mich depressiv. Es ging so weit, dass ich in ernster Suizidgefahr schwebte. Auch Drogen spielten damals eine Rolle – es war die Zeit um 1966, alles war in Bewegung, aufgewühlt, unübersichtlich.

Ein guter Freund von mir, Radiologe am Westküstenklinikum in Heide, hatte Multiple Sklerose. Er hatte keine Illusionen über seinen Krankheitsverlauf und war nach Spanien gezogen, um dort zu sterben – ohne großes Drama, ganz nüchtern. Wir hatten vorher zusammen Musik gemacht: er am Keyboard, ich an der Gitarre. Und nun schrieb er mir regelmäßig: „Komm runter. Lass uns nochmal Musik machen.“

Ich war noch nie im Ausland gewesen, aber irgendwann setzte ich mich in den Europabus – 170 Mark, Gastarbeiterbus Richtung Spanien. Ich schlief auf meinen Koffern auf einer Baustelle, verfehlte ihn zunächst, wusste nicht genau, wo er wohnte – irgendwo draußen in den Campos, in einer kleinen Finca ohne Strom, ohne fließendes Wasser. Aber eine kleine „acequia“, ein Bewässerungskanal, floss vorbei, rundherum blühten die Orangenhaine. Es war idyllisch – und ich fühlte mich sofort zu Hause.

Wie hat sich dein Leben in Spanien verändert?

Klaus Wöhrmann – mein Freund mit der Finca in den Orangenhainen – sagte einmal zu mir: „Man muss im Leben auch Entscheidungen treffen, die schwerfallen und wehtun – aber die sich im Nachhinein als richtig erweisen.“ Und genau so war es.

Unter seinem Einfluss kündigte ich. Ganz frech schrieb ich zurück nach Deutschland: „Macht euren Kram alleine.“ Ich blieb in Spanien – und mein Leben nahm eine völlig neue Wendung.

Klaus hatte einen kleinen Bücherschrank, und darin standen ausschließlich Bücher von Arno Schmidt. Ich hatte bis dahin nie etwas von ihm gelesen. Mein Bildungshorizont endete irgendwo bei Karl May. Und nun lag da dieses Taschenbuch: „Tina oder über die Unsterblichkeit“ – und ich verstand kaum ein Wort.

Eine Passage darin lautete: „Eberhard oder auch Schlottern.“ Ich fragte Klaus: „Was soll das heißen?“ Und er sagte nur: „Frag ihn selbst. Der wohnt hier. In Altea. Sieben Kilometer Fußweg.“

Ich – ein junger, etwas abgerissener Dithmarscher mit schulterlangen Haaren und einem Taschenbuch in der Hand – klopfte also an die Tür von Eberhard Schlotter. Er war ein bekannter Künstler, misstrauisch gegenüber Touristen, Kunstfreunden, neugierigen Besuchern. Doch ich hatte offenbar einen günstigen Moment erwischt. Er öffnete tatsächlich.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte er. Ich hielt ihm das Buch hin und sagte: „Das hier müssen Sie mir erklären.“ Er war verblüfft – doch auf dem Umschlag stand groß Arno Schmidt. Das war meine Eintrittskarte.

Ich durfte in einer Ecke seines Ateliers einen kleinen Campingtisch aufklappen – und blieb sieben Jahre lang. Es war der Beginn einer intensiven künstlerischen und intellektuellen Lehrzeit.

Wie wurdest du zum Illustrator?

Als Schlotter mich fragte, was ich beruflich mache, antwortete ich: „Ich mache das gleiche wie Sie.“ Das war natürlich maßlos überheblich – aber er ließ es stehen. Und dann begann er, mich zu unterrichten.

Er zeigte mir, wie man Arno Schmidt lesen muss. Ich erinnere mich an ein Beispiel, das mir bis heute im Kopf geblieben ist: „Sie wartete unter dem H des Haltestellenschildes.“ Ich verstand die Bedeutung nicht. Schlotter sagte: „Lesen Sie das mal im Kopf laut – phonetisch.“ Und plötzlich schälte sich aus dem „H“ das Wort „Hades“ heraus. Eine zweite Ebene.

So las man bei Schmidt oft zwei Geschichten gleichzeitig – manchmal sogar eine dritte, verborgen in Zitaten und Anspielungen. Diese Art des Lesens erschloss mir eine Welt, die mir zuvor vollkommen fremd gewesen war. Niemand hatte mir in Dithmarschen je etwas Ähnliches beigebracht.

In Schlotters Haus lernte ich dann eine Form des Bildungsbürgertums kennen, die mir bis dahin unzugänglich geblieben war. Verleger, Schriftsteller – Rühmkorf, Kreuder, viele andere – gaben sich dort die Klinke in die Hand. Ich stand oft daneben, hörte zu, fühlte mich klein, unwissend, ungebildet – und schämte mich. Ja, ich hatte einen massiven Bildungskomplex. Aber genau dieser wurde mein Antrieb.

Ich sage heute: „Lasst mir um alles in der Welt diesen Bildungskomplex – er ist mein Motor.“ Ich entwickelte eine Art Freibeutermentalität: Ich stahl mir Wissen. Ich sog alles auf, was ich kriegen konnte. Und weil es mit starken Emotionen verbunden war, vergaß ich es nie.

So wuchs ich hinein – in die Welt der Literatur und in die Kunst. Und irgendwann wurde mir klar: Ich war zum Illustrator geworden. Die Literatur war meine Bildquelle geworden. Mein inneres Skizzenbuch.

Wie hast du das Handwerk des Radierens erlernt?

Schlotter hatte bereits zahlreiche Bücher illustriert, doch sein umfassendstes Werk war der Don Quichotte-Zyklus: über 160 zweifarbige Radierungen, jede basierend auf zwei Druckplatten. Ich durfte daran mitarbeiten – sogar Modell stehen, als Schweinehirt.

Das war von 1972 bis 1979 – sieben Jahre. Danach kehrte ich nach Deutschland zurück. Ich musste Geld verdienen, konnte meine Miete nicht mehr zahlen, borgte von Freunden, ohne ihnen eine Rückzahlung garantieren zu können. Es war eine schwere Zeit. Dithmarschen war nicht mehr das verträumte Wunderland meiner Jugend, sondern ein harter Ort. Ich sagte oft: „Es ist ein Wunder, dass ich hier nicht verhungert bin.“ Und das ist wohl meine größte künstlerische Leistung in Dithmarschen: durchgehalten zu haben.

Schlotter erkannte meine Not und schickte mir einen Scheck über 1.000 D-Mark. Davon kaufte ich mir einen kleinen, gebrauchten VW. Ein Schrottwagen – aber er fuhr. „Sie müssen dort oben weg, bis Dithmarschen für Sie nur noch eine Wolke schlechter Luft ist“, schrieb er. Und auf dem Brief stand auch ein Zitat: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, ein Charakter nur im Strom der Zeit.“

1979 nahm er mich dann offiziell als Meisterschüler an. Nach fast mittelalterlichen Kriterien – eine Art künstlerische Ritterschaft. Er stellte mir ein kleines Haus zur Verfügung: El Fornett, der Backofen. Im Sommer wusste man, warum es so hieß.

Ich bekam dort eine bezahlte künstlerische Tätigkeit. Ich arbeitete für die Galería Rembrandt in Alicante – Pedro Olivares war der Besitzer – und fertigte Radierungen nach Skizzen und Aquarellen spanischer Künstler an. Mittlerweile hatte ich alle Techniken gelernt: Vernis Mou, Reservage, geschabte und malerische Aquatinta, sogar Schlotters eigene Erfindung – die „weiche Ätzung“. Er bestand darauf, dass wir keine Technik ausließen.

„Sie müssen sich im Klaren sein, dass Sie ein aussterbendes Handwerk lernen“, sagte er. Doch mich erfüllte das mit Stolz. Ich erlernte dasselbe Handwerk wie einst Albrecht Dürer – ein Wissen, das sich über Jahrhunderte kaum verändert hatte. Und in genau diese Fußstapfen wollte ich treten.

Technisch wurde ich, ohne falsche Bescheidenheit, zu einem der wenigen, die alle Radiertechniken in ihrer Tiefe beherrschten. Am Vormittag fertigte ich Radierungen für andere Künstler – eine ehrliche, handwerkliche Brotarbeit mit historischer Tradition.

Was war das Besondere an deiner Arbeit für Antono Quirós?

Eine neue Dimension bekam meine Arbeit, als ich ein Mappenwerk für Antonio Quirós illustrieren durfte. Quirós war homosexuell, von den Nazis in Paris verhaftet worden und hatte das Konzentrationslager nur knapp überlebt. Dort, im KZ, hatte er Kinder gezeichnet – spielende Kinder, mit einem Strich, der zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankte.

Diese Zeichnungen setzte ich – als Deutscher – in Radierungen um. Das war kein einfacher Auftrag, das war ein Gespräch auf messerscharfer emotionaler Kante. Unsere Unterhaltungen während der Arbeit waren von tiefer, oft unausgesprochener Spannung durchzogen. Aber gerade diese Begegnung ließ mich begreifen, wie weitreichend die Verantwortung eines Künstlers sein kann.

Am Nachmittag bekam ich bei Schlotter richtigen Unterricht – anhand seiner eigenen Werke. Ich durfte seine Radierplatten andrucken, hatte die Aufsicht über zwei spanische Drucker und musste regelmäßig nach Madrid fahren, um die Platten verstählen zu lassen. Dort begegnete ich einem Ätzmeister, dessen Werkstatt wie eine mittelalterliche Alchemistenküche anmutete: mit Säuren, Dämpfen, geheimnisvollen Flüssigkeiten in großen Becken. Ich fühlte mich wie in einem Film von Harry Potter – nur ohne Eule auf der Schulter.

Dieser Mann starb später an Lungenkrebs. Und langsam dämmerte mir, welche Risiken unser Handwerk barg: Salpetersäure, Eisen-III-Chlorid – Substanzen, mit denen wir täglich arbeiteten, waren alles andere als harmlos.

Horst Janssen hatte es einmal lakonisch formuliert: „Als Radierer ist man ein freier Mensch. Man kann sich den Krebs aussuchen, den man haben will.“ Wenn man mit Salpetersäure ätzt, bekommt man Lungenkrebs. Mit Eisen-III-Chlorid: Magenkrebs. Und genauso klangen später die Gespräche mit den Onkologen in der Kieler Uniklinik, als man mich nach möglichen Ursachen für meine Krebserkrankung fragte.

Wie hast du trotz Krebserkrankung weitergearbeitet?

Ich war gerade mitten in einer Auftragsarbeit für die spanische Edition Lanuza. Zwanzig Radierungen zur Carmina Burana waren geplant – ich war etwa halb durch, als die Diagnose kam: Krebs.

Ich legte meine Werkzeuge zur Seite. Plötzlich war da nur noch der Kampf ums Überleben. Die Arbeit – das Radieren, Ätzen, Drucken – rückte in den Hintergrund. Ich war mehrfach operiert worden, bestrahlt. Die medizinischen Gespräche wurden nüchterner, direkter. Und gleichzeitig bedrückender.

Doch Pepe Lanuza, der Verleger, drängte. Er wollte die große Ausstellung im Palau in Altea realisieren – eine Veranstaltung, die sogar von der UNESCO gefördert wurde. Ich war angeschlagen, aber ich wollte es auch. Also machte ich die Carmina Burana fertig – der Kunst zuliebe, mir selbst zuliebe, und vielleicht auch, um ein Zeichen zu setzen: Ich bin noch da.

Das war nach dem Jahr 2000 – wir waren inzwischen wieder nach Dithmarschen zurückgezogen. Geätzt habe ich seitdem nur noch im Freien. Die Gefahr war mir zu bewusst geworden.

Und damit schloss sich ein Kreis.

Da schließt sich der Kreis. Es heißt ja oft, der Prophet gilt im eigenen Land wenig. Welche Erfahrungen hast du diesbezüglich hier gemacht, als du zurückgekehrt bist und bis heute?

Ja, das ist ein sehr schmerzhaftes Thema. In Altea wurden wir mit einer anderen Haltung konfrontiert. Dort lebten über 160 Künstler – vom Balletttänzer über Filmemacher bis hin zu Komponisten und Radierern. Die Dialoge dort waren genau das, was man sich wünscht, fast so wie Henry Miller es vielleicht in Paris erlebt hat. Natürlich gab es auch Streit, aber dieser wurde in der Regel bei ein paar Flaschen Wein in einer Bodega beiseitegelegt. Und dann hatte man sich wieder lieb. Doch als wir nach Dithmarschen zurückkamen, wurden wir mit einem Klima des „Ich, ich, ich“ an allen Ecken konfrontiert.

Ich war hier in Norddeutschland plötzlich eine Persona non grata. Wie das passiert ist, ist uns immer noch ein Rätsel. Wir merkten plötzlich, dass uns alle Türen verschlossen blieben. Wo auch immer wir uns meldeten, ich hatte genug im Gepäck, das hier hätte ausgestellt werden können, aber es wurde uns keine einzige Tür geöffnet. Stattdessen wurden wir mit Niedertracht, Missachtung und zum Teil übler Nachrede konfrontiert, leider auch von Kollegen. Es war uns hier einfach nicht mehr möglich, in irgendeiner Form wirtschaftlich oder kommerziell zu existieren.

Das war der Hauptgrund, warum wir eine eigene Galerie gründeten. Dadurch waren wir wieder autonom. Heute sage ich mir oft: „Missgunst bekommst du geschenkt, aber Neid musst du dir erarbeiten.“ Wir haben tapfer durchgehalten bis zu meinem 75. Geburtstag, und mittlerweile stehen wir eigentlich über den Dingen. Aber die Verletzungen kommen immer wieder hoch.

Meine Frau und ich sprechen oft darüber, dass wir das irgendwann einmal aufarbeiten sollten, dass man das vielleicht beim Namen nennen muss. Aber aktuell habe ich einige sehr würdige und wertschätzende Ausstellungen, und ich möchte das nicht zu einem Tribunal verkommen lassen. Aber irgendwann wird es dazu kommen.

Du hast derzeit zwei Ausstellungen anlässlich deines 75. Geburtstags – eine große Ausstellung im Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf und die Schimmelreiter-Ausstellung im Heimatmuseum in Marne. Erzähl doch mal ein bisschen über diese beiden Ausstellungen. Was sind die Unterschiede? Was kann man dort sehen?

Eines haben sie gemeinsam, und das gilt auch für ein drittes Museum: Unsere Donationen an deren Archive. Aber solch eine Entscheidung trifft man nicht alleine. Da wir keine Kinder haben und in den Sonnenuntergang reiten, gehört das einfach zu unserer Lebensplanung. Wir möchten nicht, dass unsere Arbeit irgendwann bei Ebay landet. Deshalb verschenken wir alle Mappenwerke an die Museen hier. Auch Hanerau-Hademarschen ist dabei – Theodor Storm hat dort in den letzten acht Jahren seines Lebens den Schimmelreiter vollendet.

Wir werden also die Ausstellung, die in Marne zu sehen ist, samt allen Rahmen und Transportkisten dem Museum in Hademarschen übereignen. Das haben wir bereits mit Meldorf und Marne gemacht. Auch weitere Mappenwerke wurden in Meldorf übergeben, ebenso wie der komplette „Faust“-Zyklus, der bereits in Marne ausgestellt wurde. „Carmina Burana“ wird ebenfalls nach Meldorf gehen und auch die „Schule der Atheisten“ von Arno Schmidt. Ich möchte da gleich noch etwas zu sagen, weil dieses Werk in Dithmarschen spielt – und da schließt sich auch wieder ein Kreis. Wir geben also all diese Werke an die Museen weiter.

Letzte Woche sprach mich bei einem Buffet eine Frau an und sagte: „Herr Rusch, ich habe gelesen, dass Sie drei Museen beschenkt haben, aber nicht Brunsbüttel.“ Ich antwortete, dass es bemerkenswert ist, dass das jemandem auffällt, aber es war einfach eine Abgrenzung, die sich im Laufe der Zeit ergeben hat, weil man mich hier eben auch abgelehnt hat.

Der Schimmelreiter hat mich mein Leben lang begleitet. Er gehörte auch zu meiner Schullektüre, doch später, als ich das Buch illustrierte, wurde ich gewissermaßen ein „Sklave des Textes“ von Theodor Storm. Als Illustrator muss man den Text widerspiegeln. In der Nachkriegszeit war das ein gängiges Argument der Verlage: Die Bücher mussten kostengünstig produziert werden, um den Lesern nicht die Freiheit zu nehmen, sich eigene Bilder zu machen. Beim Schimmelreiter war das zum Glück anders.

Ich hatte anfangs auch Bedenken, aber als die Ausgabe des Schimmelreiters in Südkorea erschien, war man froh, dass es die Illustrationen gab. In Südkorea kannte man weder Deichbau wie wir, noch das Konzept eines Deichgrafen oder einer Erbfolge. Diese Dinge waren den dortigen Lesern völlig unbekannt, und meine Illustrationen erhielten plötzlich eine tiefe Bedeutung. Dr. Klaus Laage von der Stormgesellschaft hatte meine Illustrationen zunächst abgelehnt. Doch sein Nachfolger, Dr. Eversberg, entschuldigte sich später bei mir für seine Haltung.

Die Arbeit, die ja über ein Jahr dauerte und viele Zeichen und Radierungen umfasste, ließ mich oft nicht los. Storm war ein Meister der subtilen Andeutungen und der Spekulation zwischen den Zeilen. Er hat den Lesern Rätsel aufgeboten, die nie ganz gelöst wurden. Genau das war es, was Sigmund Freud an Storm faszinierte. Das Unbewusste, das Heidnische und Mystische, das zwischen den Zeilen durchscheint, spüren nur wenige Lesende im normalen Lesefluss.

Das hat mich tief beeindruckt. Als Surrealist nehme ich nicht nur das Gesehene wahr, sondern auch das, was hinter der Oberfläche wirkt. Diese Perspektive war für mich eine wichtige Inspirationsquelle, und der Schimmelreiter steckt voller solcher Anregungen. In den letzten Monaten habe ich große Ölbilder mit diesen Themen neu interpretiert.

Diese Arbeiten sind gerade im Dithmarscher Landesmuseum unter dem Titel „Von Göttlichem und Gottlosen“ zu sehen. Was steckt hinter diesem Titel?

Neben den genannten Werken habe ich auch Oskar Panizza illustriert. „Das Liebeskonzil“ von Panizza ist tatsächlich blasphemisch, aber es fiel mir nicht schwer, diese Illustrationen zu erstellen. Man kann diese Werke also unter „Göttlichem und Gottlosen“ einordnen. „Carmina Burana“ hingegen ist das genaue Gegenteil – sehr religiös.

Ich wertschätze beide Seiten und gehe in meiner Arbeit wertfrei vor. Was mich inspiriert, ist für mich ein willkommenes Thema.

Nun ein komplett anderes Thema, aber ebenso spannend: Die Wattolümpiade. Wie kam es dazu, und hattest du damals geahnt, was daraus alles werden würde?

Nein, bei den ersten Vorläufern hätte ich das niemals erwartet. Wir haben einfach ein paar Kisten Bier über den Deich geschleppt und im Watt Fußball gespielt. Das liegt schon lange zurück. Als ich in Kiel wegen eines Zungengrundtumors operiert wurde – man hört das heute noch an meinem Sprechen – musste ich vieles neu lernen. Mehrere Operationen und Bestrahlungen retteten mir mein Leben. Diese Erfahrung hat in mir eine tiefe Dankbarkeit geweckt. Mir wurde mir klar: Ich lebe nur noch, weil es exzellente medizinische Hilfe gab. Das hätte auch anders ausgehen können.

Diese Wartezeit auf die Befunde – ob noch irgendwo im gesunden Gewebe Metastasen gefunden wurden – ist grauenhaft. Man durchlebt buchstäblich eine Hölle.

Und dann erinnerte ich mich an diese alten Spaßveranstaltungen – die Wattolümpiade. Ich dachte mir: Wenn man das irgendwie in geordnete Bahnen lenken und Eintrittsgelder erheben könnte, dann ließe sich daraus vielleicht sogar etwas wirklich Sinnvolles machen.

Gerade als Krebspatient merkt man schnell, wo Informationslücken klaffen – etwa bei Jugendlichen, die zwar grundsätzlich toll sind, aber in manchen Bereichen einfach besser aufgeklärt werden könnten. Vor allem auch über neue Forschungsergebnisse, medizinische Angebote, psychosoziale Unterstützung – all das.

Mir schwebte schon lange ein Krebsberatungszentrum hier in Dithmarschen vor. Aber so etwas kostet eben Geld.

Und genau da reifte in der Klinik die Idee, die Wattolümpiade komplett neu zu denken: professioneller, strukturierter – und eben mit dem Ziel, Eintritt zu nehmen. Am Anfang waren das drei Euro. Drei Euro! Das kann man ja sogar als Spende sehen. Trotzdem haben sich manche Leute immer wieder reingeschummelt, um diese drei Euro zu sparen.

Ich habe mir dann Mitstreiter gesucht – allein war das nicht zu stemmen. Und ich hatte riesiges Glück: Michael Behrendt wurde mein organisatorisches Spiegelbild, und Oliver Kumbartzky – heute Bürgermeister in Büsum – hat sich um den Sportteil gekümmert. Da war er prädestinierter als ich.

Das Ganze wurde vom Start weg ein Riesenerfolg. Es war regelrechtes Bilderfutter für die Presse: Fotografen von Reuters bis Associated Press standen bei uns am Deich. Und die Bilder gingen wirklich um die Welt. Ich erinnere mich noch, wie ich Brunsbüttel plötzlich in kyrillischen Buchstaben oder in chinesischer Schrift gesehen habe – das war ein Wahnsinnsgefühl.

Das Internet war voll davon, und die Wattolümpiade wuchs Jahr für Jahr weiter. Dazu kamen dann die „Wattstock“-Konzerte.

Ich habe viele Musikerfreunde – allen voran Fury in the Slaughterhouse. Die haben immer pro bono für uns gespielt. Das gesamte Honorar ging in unsere Krebsprojekte. So sind über die Jahre mehr als 700.000 Euro zusammengekommen, die wir komplett in Krebsvorsorge, Beratungsstellen, Hospize und Palliativstationen gesteckt haben.

Dafür habe ich dann auch das Bundesverdienstkreuz bekommen – wohlgemerkt nicht für meine Malerei.

Was hat das mit dir gemacht, als du – ich glaube 2021 war es – das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hast? War das nur eine Form von Anerkennung für dein ehrenamtliches Engagement oder vielleicht doch ein bisschen eine späte Versöhnung im Streit um dein künstlerisches Schaffen?

Eher weniger. Aber es war sehr schön, dass dieses soziale Engagement überhaupt gesehen und gewürdigt wurde. Daniel Günther hat das in seiner Laudatio auch betont: Ehrenamt findet nicht im Verborgenen statt – es braucht öffentliche Anerkennung. Und es kann eben auch als Leitbild dienen.

Ich selbst habe auch ein Leitbild: Karlheinz Böhm. Ich durfte ihn einmal kennenlernen – er war Freimaurer, wie ich auch – und hat mit „Menschen für Menschen“ in Äthiopien etwas Großartiges aufgebaut. Er war Rotarier, Lions-Mitglied, engagiert in allen erdenklichen sozialen Netzwerken.

Einmal im Jahr kam er nach Deutschland, sammelte Spenden und reiste dann mit schweren Koffern voller Hilfsgelder wieder zurück nach Addis Abeba. Er setzte dabei einzig und allein seine Prominenz ein – und genau das war für mich ein Ideal.

Auch Künstler haben eine gewisse Öffentlichkeit, ein Netzwerk. Ich habe das über die Jahre geschickt – oder schlitzohrig – genutzt.

Du bist gerade 75 geworden. Bist du mittlerweile altersmilde geworden? Hat sich dein Blick aufs Leben oder auf die Kunst verändert?

Was die Kunst betrifft – da eher nicht. Mein Lehrer hat mir früh eingebläut: Vermeide Kollegenschelte, interessier dich nicht für den Kunstmarkt, mach einfach dein Ding. Und das habe ich beherzigt. Es gibt keinen Grund, daran heute etwas zu revidieren.

Aber ja, altersmilde trifft es wohl. Man hat viele Menschen überholt – im Leben, im Werk – und es lohnt sich einfach nicht mehr, sich zu echauffieren oder zu streiten. Unser Weg war konsequent. Wir haben uns nie verleugnet. Wir sind authentisch geblieben.

Natürlich gab es Kompromisse. Es musste Kompromisse geben – wir haben ja unsere gesamte wirtschaftliche Existenz auf meine Kunst gebaut. Ich war 22, als ich den Beruf ergriffen habe. Das ist jetzt ein halbes Jahrhundert, in dem wir ausschließlich von meiner Kunst gelebt haben.

Wenn Kritik kommt – und sie kommt –, dann meist von Kollegen. Vor allem von Kunsterziehern, die andere Kompromisse eingegangen sind. Dann nehme ich sie mit nach draußen und sage: „Sieh dir dieses Haus an. Jeder einzelne Stein ist bezahlt mit meiner Kunst.“

Wir hatten nie einen Mäzen. Keine Fördermittel. Selbst während Corona haben wir keine Hilfe beantragt. Wir haben immer nur auf uns selbst vertraut. Und wenn Banken mit Investitionsideen kamen, hat meine Frau immer gesagt: „Wenn wir investieren, dann in uns.“

Gibt es noch etwas, das du unbedingt machen möchtest? Ein Projekt, ein Traum?

(lacht) Nur eines? Das ist mein Problem! Ich platze vor Ideen. Mein Lehrer meinte damals: „Wenn Sie 50 sind, müssen Sie das Kreative bewältigt haben. Danach bleibt nur das Handwerk.“ Aber da hat er sich kolossal geirrt.

Ich wache nachts auf mit Bildideen. Ich mache Skizzen, Notizen – ich habe so viele ungemalte Bilder im Kopf. Deshalb arbeite ich auch so fleißig. Mein letztes Ölbild habe ich in dreieinhalb Wochen fertiggestellt – früher hätte ich dafür drei Monate gebraucht. Das hat auch mit Panik zu tun.

Neulich habe ich mir mit der linken Hand Tee eingeschenkt – und mit der rechten einfach weitergemalt. Erst als ich auf meine Hand schaute, wurde mir bewusst: Ich habe mir beim Malen zugeschaut. Klingt unglaubwürdig, ich weiß. Aber es war wirklich so.

Ich habe eine Routine in der Malerei – ich male Ölbilder wie andere Leute Briefe schreiben. Ich könnte ein Bild nach dem anderen wie am Fließband malen. Da muss man wohl erst 75 werden, um sein Handwerk wirklich zu beherrschen.

Ein wunderbares Schlusswort. Vielen Dank, Jens, für das Gespräch!

INFO:
Die Ausstellung „Von Göttlichem und Gottlosem“ ist noch bis zum 4. Mai im Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf zu sehen. Am 4. Mai um 15 Uhr findet dort eine Finissage mit „Meet the Artist“ statt – Jens Rusch im Gespräch mit Museumsleiter Alexander Eggert.

Parallel läuft bis zum 22. Juni eine weitere Ausstellung im Marner Heimatmuseum, die von diversen Sonderveranstaltungen begleitet wird.

Anschließend wandert die Ausstellung weiter nach Lunden und Hanerau-Hademarschen.

Homepage von Jens Rusch: https://www.atelier-rusch.de/