Kent Nagano: „Johannes Brahms ist für mich ein radikaler Visionär“

Die Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein verleiht am 29. September ihren diesjährigen Brahms-Preis an den renommierten Dirigenten Kent Nagano. Der aus Kalifornien stammende Maestro wird seit Jahrzehnten für seine dirigentischen Leistungen sowohl im symphonischen Oeuvre als auch im Opern-Repertoire weltweit gefeiert. Insbesondere in den letzten Jahren hat er sich als Generalmusikdirektor des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg verstärkt mit Johannes Brahms auseinandergesetzt und neue Perspektiven auf das Werk des norddeutschen Komponisten eröffnet.

Kent Nagano. Foto Sergio Veranes
Brahms-Preisträger 2024 Kent Nagano. Foto Sergio Veranes

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?

Es ist eine sehr große Ehre für mich, mit dem diesjährigen Brahmspreis ausgezeichnet zu werden, da ich in meiner Zeit in Hamburg eine noch größere Verbindung zu seinen Werken aufgebaut habe als vorher. Der Brahmspreis ist daher eine wunderbare Geste und Wertschätzung meiner dortigen Arbeit, für die ich sehr dankbar bin.

Sie haben sich seit Jahrzehnten mit den Kompositionen von Johannes Brahms beschäftigt. Seine Werke lagen bestimmt immer auf ihrem Dirigentenpult. Erinnern Sie sich noch, wann Sie das erste Mal Musik von Johannes Brahms gehört haben?

Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Das war am Anfang meiner musikalischen Ausbildung, da muss ich so 14 Jahre alt gewesen sein. Mein damaliger Klavierlehrer hat mich in Kontakt mit der Musik von Johannes Brahms gebracht und wollte, dass ich seine Sinfonien kennenlerne. Damals hat das San Francisco Symphony Orchester einen Brahms-Zyklus aufgeführt und er hat mich mit ins Konzert genommen. Ich habe natürlich auch Musik von Brahms auf dem Klavier gespielt, aber der erste Live-Kontakt mit seinem Orchesterklang fand damals durch dieses Orchester statt.

Seitdem lässt Sie Johannes Brahms nicht mehr los. Was fasziniert Sie bis heute an dem Komponisten?

Für mich war er ein Pionier und Visionär, der sich auch sehr für technische Erfindungen interessierte. Das ist vielleicht für manchen eine Überraschung: aber ich sehe einen großen Einfluss Brahms‘ auf die Komponisten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war für viele ein wichtiges Vorbild, wie zum Beispiel Arnold Schönberg. Seine kompositorischen Ideen, die schon in der „1. Sinfonie“ anklingen, aber vor allem später in der Dritten und Vierten deutlich werden, sind sehr zukunftsorientiert.

Inwieweit hat Ihre Zeit in Hamburg den Blick auf Brahms geschärft?

Ich habe in den letzten zehn Jahren sehr von meiner Zeit in Hamburg profitiert, um einen sehr intimen Kontakt mit seinen Kompositionen zu bekommen. Vor allem seine frühen Chorwerke und seine Lieder spielen für uns in der Oper eine große Rolle. In diesen Werken sieht man wie progressiv er war. Aus diesem Grund haben wir den Brahms-Zyklus bei den Akademie-Konzerten etabliert. Zusammenfassend würde ich sagen, dass Brahms für mich kein traditioneller Komponist war, sondern eher ein radikaler Visionär. Und meine Erfahrungen als Hamburger Generalmusikdirektor würde ich als eine prägende Zeit in meiner künstlerischen Entwicklung bezeichnen.

Ihnen ist und war es ein Anliegen, das kulturelle und musikalische Erbe auch breiteren Publikumsschichten zu vermitteln. Sie haben unter anderem die Open-Air-Konzerte auf dem Hamburger Rathausmarkt etabliert und führen Konzerte auch an ungewöhnlichen Orten, wie zum Beispiel dem Planetarium, auf. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Das 1828 gegründete Philharmonische Staatsorchester Hamburg ist ja eines der ältesten und traditionsreichsten Orchester Deutschlands und spielt eine zentrale Rolle in der europäischen Musikgeschichte. Seit 1934 ist das Orchester auch offiziell das Orchester der Hamburgischen Staatsoper und hat durch diese Doppelfunktion eine besonders breite musikalische Bandbreite entwickelt. Es ist bekannt für seine „kritische Tradition“, die sich vor allem in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik und der Pflege des Erbes großer Komponisten zeigt. Ich habe mit den Musikern oft über diese Tradition diskutiert und die provokative Frage gestellt: Gibt es einen Hamburger Klang? Darauf gibt es natürlich keine richtige Antwort. Aber wir haben gemeinsam überlegt, wie wir diese Tradition im Hier und Jetzt weiterführen könnten. Da wir uns dem Namen „Hamburg“ in unseren beiden Orchesternamen verpflichtet fühlen, ist die Idee entstanden, die ganze Hansestadt zu bespielen. So kam es dazu, an verschiedenen Orten zu spielen und die Musik auch Menschen nahezubringen, die nicht in den Konzertsaal oder in die Oper gehen.


Sie haben für das letzte Philharmonische Konzert der Saison im nächsten Jahr Brahms‘ „Symphonie Nr. 4“ ausgewählt. Warum haben Sie sich für dieses Werk entschieden, das dann ja auch Ihren Abschied von Hamburg einläutet?

Das haben mich schon viele Menschen gefragt, weil sie eher die „Achte“ von Mahler oder ein großes Chorwerk erwartet hätten. Für mich ist Brahms‘ „Vierte“ ein echtes Hamburger Werk und eines seiner stärksten Kompositionen. Durch dieses Konzert kommen außerdem zwei wesentliche Stränge meiner Konzertdramaturgie für Hamburg zusammen: der Rückbezug zur Tradition und der Klang unserer Gegenwart durch die Uraufführung der Sinfonie „Anahata“ des jungen Argentiniers Alex Nante, die wir in Auftrag gegeben haben. Die Verbindung von Zukunft durch einen jungen Komponisten, der am Anfang seiner Karriere steht, mit der Tradition eines Johannes Brahms, der seine internationale Erfahrung zwar eher in Wien gemacht hat, aber stets eine enge Bindung zu Hamburg hatte, war die Idee hinter dieser Entscheidung. Meine Amtszeit als Hamburgischer Generalmusikdirektor mit diesem Programm zu beenden, fühlte sich daher ganz natürlich an.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Das Orchester und die Stadt Hamburg haben mich geben, als Ehrendirigent mit der Orchesterfamilie weiter zu arbeiten. Dieser Wunsch aus der Reihe der Musiker war für mich wirklich ein sehr emotionaler Moment und eine große Ehre. Ich werde also „Teilzeit-Hamburger“ bleiben. Und das ist wunderbar. Darüber hinaus habe ich in den letzten Jahren ein paar für mich sehr interessante Projekte angefangen, auf die ich mich zukünftig fokussieren kann. Die nahe Zukunft wird also eher auf diesen individuellen Projekten liegen und dann werden wir sehen, was kommt.

Ihr Nachfolger als Chefdirigent wird der israelische Dirigent und Musiker Omer Meir Wellber, der durch seine Porträtkünstlerschaft beim SHMF im Norden kein Unbekannter ist. Was werden Sie ihm mit auf den Weg geben?

Ich bin sehr froh, dass er nach Hamburg kommt – in einer der schönsten Städte Deutschlands mit dieser sehr reichen Musiktradition. Ich rufe ihm zu: Erfreue dich an dieser großartigen Tradition und trage sie in die Zukunft!

INFO:

Die Verleihung des mit 10.000 EUR dotierten Brahms-Preises findet am 29. September 2024 um 19.30 Uhr in der St. Bartholomäus-Kirche Wesselburen statt. Kent Nagano wird in Begleitung des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg anreisen, das unter seinem Dirigat und ihm zu Ehren Werke von Johannes Brahms und Richard Strauss spielen wird.

Brahms-Preisverleihung 2024 an Kent Nagano
Sonntag, 29. September 2024, 19.30 Uhr
Einlass ab 19 Uhr
St. Bartholomäus-Kirche, Wesselburen

Karten: 20,– bis 38,– EUR
www.brahms-sh.de
Reisebüro Biehl